Das rechte Maß

Das rechte Maß
Ich las kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“
über das Werk des Thomasin von Zerklaere. Der Mann hat vor 800
Jahren eine Art Mittelalter-Knigge geschrieben. In dem Buch steht,
was man macht und was man besser bleiben lassen sollte. Drei
ethische Kategorien bestimmen das Denken Thomasins, das sind
Recht, Freigebigkeit (im Mittelalter hieß das noch „milte“) und das
rechte Maß (mittelhochdeutsch „mâze“).
Ich habe, als ich das las, sofort darüber nachgedacht, was das rechte
Maß für einen Wanderer sein könnte. Erst einmal heißt das ganz
banal, nicht zu viel und nicht zu wenig zu wandern. Tendenziell haben
sich Wanderer in vergangenen Jahrzehnten mit zu langen Strecken
überfordert, sie hatten das rechte Maß verloren. Denn das Maß aller
Dinge kann nur das persönliche Wohlbefinden sein, und wenn man
sich überfordert, ist das eindeutig maßlos.
Andersherum wird auch ein Schuh daraus. Wer längere Strecken
wandern könnte und sich aus welchem Grund auch immer (Faulheit,
Zeitmangel, Rücksicht auf die Kinder oder die Ehefrau/den Ehemann)
zurückhält und nur besser Spaziergänge macht als anständig zu
Wandern, auch dieser Wanderminderleister hat nicht das rechte Maß
für sich gefunden.
Das rechte Maß (oder in diesem Fall auch DIE Maß) sollte man beim
Belohnungsbier finden. Ich muss mich da durchaus selbstkritisch an
die eigene Nase fassen. Warum müssen es immer zwei Hefeweizen
sein? Oder zwei Schoppen? Wie wäre es denn mit einem Latte-
Macchiato, einer Rhabarberschorle, einem Malzbier. Auch da fehlt
vielen Wanderern das rechte Maß, innerhalb und außerhalb der
Fastenzeit.
Es kann auch mal sinnvoll sein, auf eine Wanderung zu verzichten.
Ich bin ja selber ein großer Freund vom Wanderpläne-machen, und
wenn dann ein Wanderplan samt Strecke und genauem Wandertag
steht, wird das auch durchgezogen. Allerdings ist das manchmal keine
so gute Idee. Wenn es wie aus Eimern schüttet, warum sollte man
dann unbedingt vor die Tür gehen? Wenn es dazu noch stürmt und
orkant, kann das sogar lebensgefährlich sein, genauso, wenn schwere
Gewitter vorhergesagt werden. Auch im Tiefschnee auf „normalen“
Wanderwegen im Winter zu wandern, ist selten eine gute Idee, auch
wenn der Wanderweg daheim am Computer kinderleicht aussah.
Außerdem sollte man beim Wandern doch möglichst fit sein, bei
Fieber gehört man ins Bett und nicht in den Wald, auch wenn der
Wanderplan das vorgesehen hat.
Dabei will ich jetzt nicht dazu auffordern, weniger zu wandern, um
Gottes Willen – Nein! Aber für mich gehört es zum Beispiel auch zum
„rechten Maß“, dort mehr zu Fuß zu gehen, wo wir es normalerweise
– auch als Wanderer – nicht tun. Ich spreche von den kurzen,
alltäglichen Strecken zwischen dreihundert Metern und fünf
Kilometern, für die wir noch viel zu häufig das Auto nehmen. Da wäre
es das „rechte Maß“, diese Strecken, auch wenn sie langweilig sind,
doch öfter zu Fuß zu gehen.
Ich wünsche Euch allen ein maßvolles Wandervergnügen, Schritt für
Schritt oder – um mit Shakespeare zu sprechen – Maß für Maß.